Minimalismus meets Nirvana

Ein Leben, das auf das Maximum reduziert wird, reduziert auf ein Maximum des Wohlfühlens mit einem Minimum an Dingen und Geschäftigkeit, öffnet die Tür weit für den Geschmack von Nirvana.

Auch ich gehöre zu den Anhängern des minimalistischen Lebens. Ich leben mindestens 6 Monate im Jahr in einem Wohnwagen. Der begrenzte Stauraum erlaubt mir nur die wichtigsten Dinge mitzunehmen. Und erstaunlicherweise vermisse ich kaum etwas von den Sachen, die ich in meiner Wohnung gelassen habe. Ich fühle mich unbelastet und frei. Nur wenig Dinge rufen: „beachte mich, kümmer‘ dich um mich, pflege mich“.

Das Leben fühlt sich plötzlich so leicht an. Ich erlebe den Geschmack von Nirvana (Pali: Nibbana).

Und so entsteht der Geschmack von Nibbana:

 

Das Erlebnisatom

Das Atom ist die kleinste Einheit der Materie und wir wissen, dass das Atom aus noch kleineren Teilchen zusammengesetzt ist.

Was ist die kleinste Einheit des Erlebens und woraus ist sie zusammengesetzt? Findest du etwas anderes als diese kleinste Einheit des Erlebens?

  1. Auf unsere Sinne trifft ein Sinneseindruck, wir sehen, hören, schmecken, riechen oder tasten etwas. In der buddhistischen Lehre gilt auch der Geist als Sinn, was ich sehr logisch finde, denn mindestens genauso oft wie ein äußerer Sinneseindruck beschäftigt mich ein Gedanken oder eine Erinnerung.
  2. Nachdem der Sinneseindruck aufgetreten ist, wird augenblicklich ein Gefühl ausgelöst. Entweder wir mögen etwas oder wir mögen es nicht. Oder es ist uns gleichgültig.
  3. Nun nehmen wir den Sinneseindruck wahr. Was, wir nehmen ihn es erst jetzt wahr, nicht schon vorher? Nun, wenn er uns gleichgültig ist oder nur ein schwaches Gefühl auslöst, nehmen wir ihn in der Regel nicht wahr.                                                                           Neulich bin ich mit einer Freundin durch die Stadt gegangen und fragte sie hinterher: „Thomas Hengelbrock dirigiert demnächst hier, das Konzert würde ich gern hören. Hast du Lust mitzukommen?“ Ihre Antwort war: „Woher weißt du das?“ Nun, ich habe die Reklame dafür gesehen. Da ich selbst im Orchester spiele und diesen Dirigenten sehr schätze, löst dieses Plakat in mir positive Empfindungen aus und ich nehme es wahr. Meine Freundin hört zwar auch gern Musik, ist aber nicht so stark engagiert. Also übersieht sie das Plakat, ihre Augen werden von Konzertplakaten nicht angezogen, denn sie lösen bei ihr nicht so starke Empfindungen aus.                                                                                                                                     Die Gefühle machen die Sinneseindrücke für uns deutlich wahrnehmbar, sie sortieren sie für uns. Sonst wären wir überwältigt von der Vielzahl der Sinneseindrücke.Wir haben also jetzt den Sinneseindruck und das Gefühl wahrgenommen.
  4. Nun setzt sich ein Prozess in Gang. War das Gefühl positiv, wollen wir haben oder behalten, was wir wahrgenommen oder uns vorgestellt haben. War das Gefühl negativ, wollen wir auf gar keinen Fall bekommen, was das negative Gefühl ausgelöst hat oder es schnellstmöglich wieder loswerden.
  5. Und jetzt fängt unser Bewusstsein an, für uns zu arbeiten. Das Bewusstsein kann man sich wie das Betriebssystem eines Computers vorstellen. Das Betriebssystem „Bewusstsein“ ist darauf programmiert, uns angenehme Gefühle zu verschaffen und unangenehme zu vermeiden. Dafür sucht es auf der Festplatte der Erfahrungen nach Möglichkeiten. Es ruft ununterbrochen alle Dateien auf und gibt uns dann die Möglichkeiten an, nach denen wir handeln können.

 

Die fünf Zusammenhäufungen

Dieser Prozess Sinneskontakt-Gefühl-Wahrnehmung-Prozesse-Bewusstsein läuft unablässig immer wieder ab. Je mehr wir gelernt haben, uns gute Gefühle durch Aufgreifen und Beschaffen von Sinneseindrücken zu beschaffen, desto intensiver wird der Prozess.  Wenn es fast unerträglich wird, sagt man „Ich dreh‘ am Rad“. Die Unruhe und der Drang, sich etwas zu beschaffen, wird immer stärker. Das Vertrackte an der Situation ist, das die guten Gefühle immer nur kurz anhalten und wir uns dann wieder neue beschaffen müssen.

In der buddhistischen Lehre wird dieser Ablauf das Aufgreifen von den fünf Zusammenhäufungen genannt. Wir brauen uns aus den Zutaten Sinneskontakt-Gefühl-Wahrnehmung-Prozesse-Bewusstsein ununterbrochen einen Erlebniscocktail. Aber er wird uns letztlich nie auf Dauer zufriedenstellen, denn jedes Erlebnis geht vorüber, und danach ist das Verlangen noch stärker, so, als ob man Salzwasser gegen den Durst trinken würde. Man wird einfach immer durstiger.

In dem Augenblick, in dem wir etwas nicht aufgreifen, sondern es einfach nur wahrnehmen, ohne danach zu greifen oder es abzulehnen, erleben wir Nibbana (Sanskrit: Nirvana). Nibbana heißt eigentlich kühl. Wenn ein Feuer erloschen ist, ist es Nibbana oder das Kind sagt: Mein Essen ist jetzt Nibbana.

Nibbana tritt ein, wenn dieser rasende Kreislauf des Aufgreifens abgekühlt ist.

 

Prozesse sind vergänglich.

Ihre Natur ist es, zu entstehen und zu vergehen.

Kaum aufgestiegen, verlöschen sie wieder.

Ihr zur Ruhe kommen ist wahres Glück.

(Lehrreden des Buddha)

 

Minimalismus gegen den Durst

Wenn ich im Wohnwagen lebe, entscheide ich mich, mit wenig auszukommen. Anders geht es nicht, denn der geringe Stauraum gibt mir keine andere Möglichkeit. Sollte ich etwas Neues kaufen, muss ich etwas anderes wegwerfen. Schließlich kaufe ich nur noch, was ich wirklich verbrauche. Und im Laufe der Zeit geschieht etwas Erstaunliches:

Dieser rasende Kreislauf aus Wünschen-Habenwollen-Beschaffen verlangsamt sich. Er verlangsamt sich so stark, das Ruhe entsteht. Lücken treten auf. Ich nehme etwas wahr, aber ich muss es nicht haben.

Die dauernd nagende Unruhe klingt ab und der Geschmack von Nibbana breitet sich in mir aus. Diese Ruhe und Stille. Sich erfüllt fühlen. Nichts zu brauchen. Diese liebende Freude. Meine Worte reichen nicht aus, um das Gefühl auszudrücken. Es ist das Schönste, was ich kenne.

Wenn der Brauvorgang des Erlebniscocktails spätestens nach der Wahrnehmung unterbrochen werden kann, blitzt Nibbana durch und ich kann es schmecken.

Du auch. Jeder kennt es, denn bei jedem Menschen entstehen auch Pausen. Zum Beispiel entsteht diese Pause, wenn du dir einen Wunsch erfüllt hast. Du denkst, du wärest froh, weil du jetzt die neue Handtasche besitzst oder etwas Abgefahrenes erlebt hast. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Freude entsteht vor allem auch dadurch, dass dieser rasende Kreislauf für einen kurzen Augenblick zur Ruhe gekommen ist. Für einen kurzen Zeitraum brauchst du nicht mehr irgend etwas hinterher zu laufen. Du kannst verschnaufen. Du kannst zur Ruhe kommen. Nibbana schimmert durch.

Wenn du das nicht einbeziehst, entsteht in deinem Bewusstsein eine Verknüpfung, die dich in die Irre führt: „Ich fühle mich gut, weil ich dies oder das habe oder tue.“ Dein Bewusstsein wird beim nächsten Mal diese Verknüpfung in seine Suche einbeziehen und dir als Möglichkeit anbieten.

Achtest du auf die vorübergehende Ruhe, das Verschnaufen, das durchschimmernde Nibbana, wird dein Bewusstsein den Link anders setzen.

Im Betriebssystem Bewusstsein wird nun ein neuer Ordner angelegt mit dem Namen „Nibbana“. Die Unterkategorien sind zufälliges Nibbana, Níbbana durch Unterdrückung (z.B. in der Meditation; in diesem Fall ist Unterdrückung nichts Schlechtes), und anhaltendes Nibbana. Die ersten beiden Nibbanas vergehen wieder wenn ihre Bedingungen vergehen, das letzte hält an, des es besteht ohne Voraussetzungen. Wenn du dort angekommen bist, hast du das Ziel, das endgültige, anhaltende Nirvana (Nibbana) erreicht.

Achte auf diese kleinen Nibbana-Augenblicke, nimm aufmerksam das ganz andere Glücksgefühl war, dass du dann erlebst. Du wirst immer erfahrener darin, den Geschmack von Nibbana zu erkennen und es immer häufiger zu spüren. Nibbana ist kein Ziel in unendlicher Ferne. Erlebe jetzt schon die kleinen „Nibbana-Cents“. (Bhante Dhammaviro, danke für diesen so passenden Begriff).

Wann hast du das letzte Mal so einen Augenblick erlebt? Wie würdest du das Gefühl beschreiben? Lass uns an deinen Erfahrungen in den Kommentaren teilhaben.

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9 Gedanken zu „Minimalismus meets Nirvana

  1. Liebe Christiane! Vielen Dank für diesen schönen Artikel. Dass das Nichtbrauchen einen so schönen Namen hat, wusste ich nicht.

    Ja, ich kenne dieses Gefühl sehr gut und habe es oft. Ich freue mich zum Beispiel über übersichtlich eingräumte Schränke und Schubladen, in denen kaum etwas drin ist.

    Wenn ich in ein Geschäft oder ein Kaufhaus gehe, dann bin ich oft erfüllt von einem glücklichen Gefühl, weil ich mir bewusst werden, dass ich all die Dinge, die es in dem Laden gibt, gar nicht brauche. Ich schaue sie mir gerne an, lege sie dann zurück und bin glücklich sie nicht kaufen zu müssen. Schöne Dinge machen mir schon Spaß, aber ich muss sie nicht besitzen.

    Kaufhäuser sind für mich manchmal allerdings auch anstrengend. Vor allem jetzt zur Weihnachtszeit. So viele Leute, die es so eilig haben. Das Tempo, der Krach… vertrage ich gar nicht gut.

    Wäre toll, wenn du irgendwann mal schreibst, wie ich damit umgehen kann.

    Ich freue mich schon darauf, weitere Artikel von dir zu lesen.

    bunteGrüße
    deineSteffi

  2. Liebe Steffi,
    ist das nicht ein tolles Gefühl, nicht immer zugreifen zu müssen? Dein Kommentar erinnert mich an eine Freundin, die einmal in eine sehr teure Boutique ging und dann zu der Verkäuferin sagte: „Wissen Sie, ich möchte nichts kaufen, aber ich würde gern diese wundervollen Stoffe anfassen.“ Die Verkäuferin erwiderte: „Das sind uns die liebsten Kunden“.

    Deine Anregung für einen Artikel über die starke Empfindsamkeit für Stimmungen, Lärm und Hektik nehme ich gern auf. Ich kenne das gut und deshalb bin ich jetzt so froh, auf dem kleinen Knust Helgoland zu sein, auf dem eher Winterschlaf als Weihnachtshektik herrscht.

    Liebe Grüße, Christiane

  3. Hallo Christiane,

    was ein toller Artikel. Das passt ja ganz wunderbar zu meinem Artikel über unser Leben ohne Wohnung :) Ich wusste auch nicht, dass man das Glücksgefühl wenig zu besitzen Nirvana nennt. Ich muss da jetzt nochmal drüber nachdenken. Vielen Dank dafür. See you, Dani

  4. Liebe Dani,
    danke für deinen Kommentar. Hast du Lust, noch einen kleinen Ausflug in die buddhistische Lehre zu machen? In der buddhistischen Terminologie ausgedrückt ist Nirvana immer als Hintergrund vorhanden, wie die Stille im Lärm. Besonders gut gefällt mir die poetische Formulierung im Pali-Kanon: Das Herz ist selbstleuchtend. Diese Strahlung wird nur durch die sog. Herzenstrübungen verdunkelt. Und zu diesen Trübungen gehört etwas haben zu wollen (üblicherweise Gier genannt) und noch neun andere. Wenn die Flecken auf dem selbstleuchtenden Herzen an einer Stelle geringer werden, kann man wieder das strahlende Herz spüren. Achte darauf, was das Strahlen wieder verringert und meide es dann. So kannst du das Glücksgefühl immer weiter ausbauen und Nirvana stabilisieren.

  5. Hallo von der Wildnisfamilie

    weniger ist bekanntlich mehr – danke für den schönen Artikel.
    Auch wir erleben es immer wieder, wenn wir im Wohnmobil leben, dass wir viel mehr Zeit haben, weil man weniger zu verwalten hat. Putzen, aufräumen – all das geht so schnell, nicht wahr?

    So bleibt Zeit für viele andere tolle Dinge :-)

    Vielleicht hast Du ja Lust uns auf unserer Website zu besuchen? Wir leben auch partiell mehrere Monate als Familie im Wohnmobil

    LG Line

  6. Hallo an die Wildnisfamilie,
    ja, ich finde das nomadische Leben auch herrlich einfach.
    Windige Grüße von der Insel Helgoland, Christiane

  7. Ja, Ihr Lieben, alle schreiben, dass sie im Wohnmobil so frei und unbeschwert leben. Das klingt sehr verlockend, so einfach und weckt meine verdrängte Sehnsucht. Wir haben eine Eigentumswohnung in einer Wohnsiedlung mit 200 Familien, die viel Geld kostet. So richtig zuhause fühle ich mich hier nicht. Wir sind seit 1958 berufstätig. Wir könnten die Wohnung verkaufen, aber wohin ? Wir brauchen eine gewisse Bequemlichkeit für unseren abgenutzten schmerzenden Körper, ein paar soziale freundliche Kontakte. Wir sind 71 Jahre und das Arbeiten seit unserer Kindheit gewöhnt. Die Zeit rennt so schnell vorbei. Vielleicht habt Ihr einen Tip, wo es Natur, ein paar freundliche Nachbarn gibt, wir könnten auf die Kinder aufpassen. Ob ich mein Zuhause oder Nirwana-Nibbana noch hier auf Erden finde ? Liebe Grüße von Birgit

  8. Liebe Birgit,
    ja, die Zeit rennt schnell vorbei. Wir sind übrigens 64 und 74 Jahre alt und uns dessen auch sehr bewusst; und die körperlichen Abnutzungserscheinungen machen sich auch bei uns bemerkbar. Ich weiß ja nicht, wo ihr zu Hause seid, bei uns in der Nähe gibt es einen ökologischen Bauernhof, auf dem auch „Altenwohnungen“ sind (Lübecker Bucht), nette Kontakte und Kinder eingeschlossen.

    Ein wirkliches Zuhause, in dem wir uns hier niederlassen können, gibt es aber meiner Meinung nach nicht. Wie sagt der Buddha: „Man kann sein Haus nicht auf einer Brücke bauen“.

    Das Gute am Wohlbefinden des Nirvana-Nibbanas ist übrigens, dass es nicht davon abhängt, ob Wünsche erfüllt werden oder nicht. Im Nibbana und schon etliche Stufen vorher existiert ein eigenständiges Wohlbefinden, ganz unabhängig von äußeren Gegebenheiten. So ist man schon zufrieden, bevor Wünsche erfüllt werden – und damit ganz frei.

    Ich wünsche dir eine angenehme Wohnumgebung und dass du das ganz eigenständige Wohlbefinden verwirklichen kannst.

    Herzliche Grüße,
    Christiane

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